Warum ich vieles anders mache.
Der folgende Bericht sollte nicht als wissenschaftliche Abhandlung, einzige Wahrheit oder allumfassende Anleitung zum Umgang mit gesundheitlichen Problemen verstanden werden. Er klingt in Teilen vielleicht etwas überheblich, aber ich möchte begreiflich machen, dass man seinem Schicksal nicht willenlos gegenüber steht. Dass nicht die anderen daran Schuld haben, das es gar nicht um die Schuld geht, dass man fast immer eine Wahl hat und dass man diese auch gegen Widerstände wahrnehmen sollte, sich nicht einfach in Selbstmitleid ergeben sollte.
Zwar sind grundlegende medizinische Kenntnisse beim Autor vorhanden, doch spielen diese beim Verfassen dieses Textes eine untergeordnete Rolle.
Was Sie im Folgenden und bei allen zukünftigen Medizinberichten lesen, ist in erster Linie ein Erfahrungsbericht. Es ist eine Zusammenfassung vieler subjektiver Erfahrungen mit chronischer, wie auch akuter Erkrankung, im Alltag, auf Reisen und in Extremsituationen.
Es ist sowohl eine simple Chronologie der verschiedenen Herausforderung und Entscheidungen, die ich in den vergangenen Jahren treffen musste, als auch eine komplexe Suche nach den Grenzen des Machbaren. Letzteres mögen viele nicht verstehen und durchaus berechtigt als übertrieben und gefährlich einstufen.
Bevor es hier Kritik hagelt, möchte ich bemerken, dass niemand gezwungen ist diesen Bericht zu lesen oder gar meinem Beispiel zu folgen. Wer es doch tut, der ist mit Lesen dieses Berichtes zumindest ein oder zwei Schritte weiter als ich es in den meisten grenzwertigen Situationen war und muss nicht nochmal die gleichen Fehler machen, wie sie mir passiert sind.
Ich hoffe also dieser Bericht hilft mehr Schaden zu verhindern, als er verursacht. Es ist keineswegs Ziel dieser Schilderungen jemanden auf dumme Ideen zu bringen und Dinge zu tun, von denen doch alle wissen, dass er sie nicht kann. Nichts desto trotz zeigt meine Erfahrung, dass die dummen Ideen sich im Nachgang doch oft als die besten herausstellen.
Ein Beispiel: Meinem Bruder Nino und mir hat in einem schneereichen Winter jemand erzählt, man könne in Haunetal kein Snowboard fahren. Nichts desto trotz sind wir immer mal wieder mit den Boards auf die flachen Hügel der Umgebung gezogen und ein paar Meter runtergerutscht. Eines Tages wurde uns das zu langweilig und so banden wir uns an einen mit Schneeketten bestückten VW Bus. Schnell war auch jemand gefunden der ein solches Gefährt auf Schnee und Glatteis mit den zugewehten Gräben auf beiden Seiten der Wege sicher steuern kann. Natürlich. Papa Lars. Wie wir die Theorie widerlegt haben, dass man in Haunetal kein Snowboard fahren kann, seht ihr hier: https://youtu.be/0aHag5nwxyU Ob man etwas kann oder nicht wird man erst wissen, wenn man es wirklich versucht hat.
An dieser Stelle ist ein Dank angebracht an meine unheimlich tolerante und was gute Ideen angeht, inspirierende Familie. Ohne sie wäre ich nie geworden, wie ich bin. Ich hätte keine Chance gehabt so gut in der Welt zurecht zu kommen.
Seit Geburt habe ich Mukoviszidose. Eine autosomal rezessiv vererbbare Krankheit, die sich in Verdauungsstörungen, Lungenfunktionsbeeinträchtigung und anfälligem Immunsystem manifestiert. In der frühen Kindheit kam dazu eine asthmatische Komponente, die mich auf gewisse Substanzen mit einer Verengung der Lunge reagieren lässt. Mit 16 Jahren kam ein Diabetes Typ 1 dazu. Ein Totalausfall der Insulinproduktion.
Im ersten Moment klingt das heftig. Mit Sicherheit war es das auch zu Beginn, zumindest für meine Eltern. Als Kind jedoch habe ich das gar nicht richtig mitbekommen. Die Medikamenteneinnahme war, und ist bis heute, ein normaler Teil meines Lebens. Die Diagnose des Diabetes mit 16 Jahren hat mich dann schon, zumindest für ein paar Wochen, mehr mitgenommen. Zum ersten Mal seit ich alt genug war den Begriff Krankheit in seiner ganzen Tragweite zu begreifen, verschlechterte sich mein Gesundheitszustand nicht schleichend, sondern plötzlich. Eine Entscheidung musste getroffen werden.
Zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Diabetes manifestierte, war ich ständig beschäftigt mit dem Training für mein neues Hobby Parkour bzw. Turnen und meiner vorübergehenden Lieblingsmusik, dem Punkrock. Es war schwer als sportbegeisterter Jugendlicher, der ohnehin schon nicht die besten Voraussetzungen hatte, nochmal einen Rückschlag höherer Gewalt akzeptieren zu müssen. Schon früher war ich nie der Beste, der Schnellste oder der Ausdauerndste, geschweige denn der Größte in der Klasse. Gelegentlich war ich auch derjenige, auf den man es abgesehen hatte auf dem Schulhof. Viele wollten mir helfen und redeten mir ein: „Du kannst ja nichts dafür“, „Geh ihnen einfach aus dem Weg“, „Schau doch mal bei unserem Sozialarbeiter vorbei“.
Mein Vater hatte da glücklicherweise andere Ansätze. „Du musst eben härter trainieren, um so fit zu sein wie die Anderen und noch härter, um fitter zu sein als sie“. Das leuchtete mir gleich ein und ich begann mit 13 Krafttraining und Ausdauersport zu betreiben. Als sie immer noch nicht aufhörten mich zu belächeln, hatte er noch einen Tipp parat: „Wenn sie dich wieder ärgern, dann ziel auf die Nase, da ist jeder empfindlich“. Das hat sehr gut funktioniert. Ich habe früh gelernt, mich selbst zurecht zu finden.
Diese Einstellung half sehr mit der neuen Situation meines Körpers klar zu kommen. Wer mich nach der Diagnose auf der Kinderstation besucht hätte, der hätte viele Kinder und Jugendliche vorgefunden, die brav ihre Tabellen ausfüllten, ihre Insulindosen auswendig lernten und mit ihren traurig schauenden Eltern in „besser Essen, besser Leben“ Zeitschriften rumblätterten. Mich hätte man in meinem Zimmer selten angetroffen. Ich war so oft es ging in der Physiotherapie. Wenn ich dort nach Meinung der Therapeuten schon zu lange trainierte, was jeden Tag passierte, dann hing ich zum Graus der Schwestern am Geländer meines Balkons im zweiten Stock und übte Klimmzüge. Ansonsten schlenderte ich in meinen 16 Loch Springerstiefeln, meist mit freiem Oberkörper, zum Eingang des Klinikums und holte mir einen Döner ab, den mir einer meiner Kumpels oder meine Eltern vorbei brachten. Von dem Krankenhausessen wurde ich nicht satt. Weder mein Appetit, noch mein diszipliniertes Training haben mich je wieder verlassen. Konfrontiert mit noch einem Handicap wusste ich, ich muss noch mehr tun, um es zu kompensieren. Ich denke, dass jede Schwächung des Körpers meinen Geist gestärkt hat.
Ungeachtet der Macht des Geistes über den Körper sollte man unnötigen Schaden dennoch meiden. Wenn man sich unsere Reisen anschaut, mag der ein oder andere an der folgenden Aussage vielleicht zweifeln, aber Gesundheit steht für mich bei den meisten Entscheidungen an erster Stelle. Niemand kann entscheiden, ob er Diabetiker wird oder nicht. Jeder kann allerdings entscheiden, ob er sich eine Stunde am Tag bewegt oder vorm Fernseher sitzt, ob er Cola oder Wasser trinkt, ob er sich selbst bemitleidet oder etwas tut. Gesunde Rahmenbedingungen sind die Voraussetzung für einen gesunden Körper und begünstigen natürlich auch eine gesunde Einstellung im Geiste. Wichtig sind deshalb die Entscheidungen, die man trifft.
Ich hatte vor einiger Zeit den Traum meine handwerklichen Fähigkeiten weiter zu verbessern und damit meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Also fing ich eine Schreinerausbildung an. Mit Robin, meinem Meister und einzigem Mitarbeiter der Schreinerei Hahn in Kruspis, hatte ich wirklich den perfekten Ausbilder gefunden. Wir hatten eine super Zeit zusammen, die Arbeit machte wirklich Spaß. Da wir nur zu zweit waren, war ich überall eingebunden und jeden Tag lernte ich etwas Neues. Es passte alles. Nach neun Monaten Ausbildung und den zwei wichtigsten überbetrieblichen Schulungen hörte ich Mitte des zweiten Ausbildungsjahres auf. Meine Lungenfunktion war in diesen neun Monaten um knappe 20 Prozent gefallen. Ich hatte eine leichte und eine schwerere Lungenentzündung und musste mir eingestehen, dass der Preis für diese Ausbildung zu hoch ist. An dieser Stelle bedanke ich mich bei Robin, der die Situation mit viel Verständnis genommen hat und mich bis heute stets unterstützt.
Ich habe danach ein paar Monate gebraucht wieder auf den alten Fitnessstand zu kommen. Viel Training, Höhenluft und diszipliniertes Inhalieren waren nötig, um alles wieder in Form zu bringen. Im Sommer 2019 sah es dann so aus, als würde alles wieder im Lot sein. Die Reisevorbereitungen gingen langsam los. In der Nacht des 25. Juni 2019 traf ich dann auf einer Nachttour mit dem Motorrad gegen zwei Uhr morgens einen jungen Rehbock. Genau genommen trafen wir uns gegenseitig. Ich mit 80KmH von vorne und er mit einiger Geschwindigkeit von der Seite. Mein Vorderrat wurde förmlich weggerannt und der dann folgende unkontrollierte Sturz auf das Asphaltbrocken-Schotter Gemisch des Feldweges in den Haunewiesen traf mich hart. Vierfacher Mittelfußbruch, Schultereckgelenksprengung, drei Rippen, einige Minuten bewusstlos. Nachtdienst im Rettungsdienst in Neukirchen hatte ausgerechnet mein Vater und der hatte nach dem Einsatz in dieser Nacht wahrscheinlich den größten Schock von allen.
Nach zwei Wochen Rollstuhl konnte ich mich das erste Mal aufs Motorrad setzen, welches ich schon vom Rollstuhl aus wieder soweit fahrfertig gerichtet hatte. Mit dem Gips konnte ich zwar wegen der Kupplungsproblematik noch kein Auto fahren, aber Motorrad fahren ging. Disziplinierte, tägliche Physiotherapie half mir die Verletzungen inklusive des bis heute gerissenen Bandes in der Schulter schnell zu kompensieren und bereits nach acht Wochen konnte ich schon wieder auf Moppedtour bis in die Alpen fahren, klettern und wandern.
Während der ersten vier Wochen Regeneration war meine körperliche Betätigung sehr gering. Ich konnte nur flach atmen und kaum husten. Die Rippen schmerzten noch zu sehr. Das führte natürlich in Verbindung mit dem, durch den Unfall zusätzlich geschwächten Immunsystem, zu einer Lungenentzündung, die mich gleich das zweite Mal diesen Monat in die Notaufnahme brachte. Von dort ging es nach Gießen in meine Mukoviszidose-Ambulanz zur Ärztin meines Vertrauens. Sie erklärte sich bereit mir die intravenösen Antibiotika zur Therapie nach Hause liefern zu lassen und so begann die Eigentherapie. Es war die schwerste Lungenentzündung meiner bisherigen Laufbahn und ich lag eine ganze Woche nur in der Gegend rum. Es folgten leider im Laufe des Jahres zwei weitere. Die folgen des Unfalls für die Lunge stellten sich als viel gravierender heraus, als die Folgen für Knochen und Bänder. Auf jeden Fall war meine Lungenfunktion im Januar 2020 auf 40% gefallen. Das war etwas zu wenig für meinen Geschmack.
Bereits im Dezember hatte ich eine Kur beantragt, Mitte Januar teilte man mir mit, ich könne eventuell im Mai eine Kur antreten. (Danach wurde die Kur schließlich noch zwei Mal verschoben und schließlich wegen COVID gestrichen). Die Nachricht traf mich schon hart. Noch nie seit ich volljährig war, hatte ich eine Kur beantragt, obwohl mir mit meiner Vorerkrankung jedes Jahr problemlos eine Kur bewilligt und bezahlt werden würde. Dieses eine Mal hätte ich sie gebraucht und man vertröstete mich um mehrere Monate, um sie dann ganz zu streichen.
Im Nachhinein betrachtet tat mir die Nachricht gut. Sie erinnerte mich in meiner Lage wieder an etwas, was mir schon früher beigebracht wurde. Du musst dir selber helfen. Verlass dich auf deine guten Freunde, deine Familie und niemanden sonst.
Ich arbeitete zu dem Zeitpunkt bei der Kreishandwerkerschaft Hersfeld Rotenburg unter meinem Chef Hubert Lorenz. Wieder einmal hatte ich Glück mit meinem Vorgesetzten und Hubert brachte viel Verständnis für die Lage auf. Eine kompetente Kollegin wurde mir in meinem Projekt zur Seite gestellt und sie übernahm peu a peu einen Teil meiner Aufgaben, bis sie den Laden schließlich ab Juni quasi alleine schmiss. Meinen zweiten Job mit zehn Stunden in der Grundschule Haunetal reduzierte ich auch soweit es ging. Die Gesundheit ging vor.
Mein Tagesablauf sah Wetter-, und Wochentagunabhängig fast immer gleich aus. Früh aufstehen, eine Stunde wandern und dabei inhalieren, eine halbe Stunde selbstständige Lungenphysiotherapie auf dem Teppich vorm Kamin, gesundes Müslifrühstück, Ingwertee, Arbeit oder Heimarbeit. Heimkommen, gut kochen, eine Stunde Krafttraining, Dehnübungen, ein Stück spazieren gehen, inhalieren, Lungenphysio, schlafen. Fernsehen, Internetsurfen, Videoschauen oder chatten haben mich noch nie interessiert. Das Schrauben, Lesen, Freunde treffen und Schlagzeug spielen musste natürlich etwas unter den Umständen leiden. Die Wochenenden wurden mit Trial fahren, Klettern, Wandern, Fahrradfahren, Sauna und gutem Essen gefüllt. Ich machte meine eigene Kur. Sie steigerte sich monatlich. Gegen Ende enthielt sie viel Höhentraining in den Alpen und Ausdauerläufe. Die Kur dauerte an bis ich Anfang August 20 Kilometer ununterbrochen joggen konnte, die beste Lungenfunktion seit meinem elften Lebensjahr hatte und mich mit ganzen 60Kg unbesiegbar fühlte. Wo ich im Januar noch beim Aufstieg der Treppen in unsere Dachwohnung keuchen musste und die Reise den Bach runtergehen sah, konnte ich im September mit der Fitness meines Lebens wie geplant auf Tour gehen.
Nicht möglich wäre das gewesen ohne meine Familie, meine guten Freunde und die Kollegen bei der Handwerkerschaft, die mich immer unterstützt haben. Auch Heike Eckert und Frank Klein aus der Diabetespraxis in Schenklengsfeld, Azadeh Bagheri von der Muko Ambulanz Gießen, das Team der Marktapotheke Burghaun und allen voran Isabel Großcurth, Mario Paviciullo und das ganze Team der Gemeinschaftspraxis in Haunetal. Nicht zu vergessen unser Freund und Neurologe des Vertrauens, auch wenn ich noch nie beim Neurologen war, Roland Sporleder. Er weiß einfach immer Rat.
Danke euch allen!
Auch im weiteren Verlauf der Reise werde ich von dieser Seite viel Unterstützung erfahren.